Es ist nicht nur Krieg, wenn Bomben fallen!
3. Januar 2014
Mit Matthäus Weiß, Vorsitzender des Landesverbandes Schleswig-Holstein vom Verband Deutscher Sinti und Roma e.V., sowie dem stellvertretenden Vorsitzenden Hauke Bruhns führte der `Runde Tisch gegen Rassismus und Faschismus – Kiel´ eine Diskussionsveranstaltung „Sinti und Roma in Deutschland“ durch.
Zunächst stellte Matthäus Weiß fest, dass viele Menschen es anscheinend immer noch als Belastung empfinden, mit der Geschichte der Verfolgung von Sinti und Roma konfrontiert zu werden. Dieses wird durch Reaktionen wie „es muss auch einmal gut sein, mit dieser Frage“ zum Ausdruck gebracht. Weiß legt demgegenüber dar, dass es nicht nur die Geschichte der Verfolgten ist – ob nun Sinti, Roma, Juden oder anderer -, sondern unsere gemeinsame Geschichte ist.
Von Politikern verschiedener Parteien wird oft über die Verfolgung und Verbrechen an den Sinti und Roma geredet, doch durch andere Aussagen und Taten gleich wieder in Frage gestellt. Als Beispiel nannten Matthäus Weiß und Hauke Bruhns die Rede von Kanzlerin Merkel, bei der Einweihung des Mahnmals für die ermordeten Sinti und Roma am 24. Oktober 2012 in Berlin. Es sei eine wirklich schöne Rede mit vielen warmen Worten gewesen, der Widerspruch lag darin, dass parallel Abschiebungen von Flüchtlingen – auch Sinti und Roma – durchgeführt wurden. „Welche Lehren wurden gezogen aus der Geschichte, wenn Menschen abgeschoben werden, die ihre Familien in den KZ der Faschisten verloren haben?“ fragte Weiß. Eine daraufhin erfolgte Anfrage an die Kanzlerin wurde bis heute nicht beantwortet.
Im November 2013 war Matthäus Weiß mit einer Delegation des Innenministers aus Schleswig-Holstein, Andreas Breitner, in Rumänien und Mazedonien. Die Lebenssituation der Menschen dort machte wohl einigen der 16 Teilnehmer_innen deutlich, wie groß das Elend ist: Hunger, Kälte, menschenunwürdiges Wohnen, wenig Bildungsmöglichkeiten und schlechte ärztliche Versorgung.
Dies, so Weiß, sind auch Ursachen für Flucht. Es ist nicht nur Krieg, wenn Bomben fallen: Hunger ist gewollter Krieg! Denn die, die etwas unternehmen könnten gegen das Elend, wohnen oft in den Hotels direkt neben den Armutsgebieten, kaufen in den benachbarten Einkaufszentren ein.
Bruhns ergänzt, dass der EU die Situation dort bekannt ist. Deshalb gibt es zwar finanzielle Hilfen, doch bei den Menschen, die Not leiden, kommt diese gar nicht an. Und es wird auch nicht geprüft wo das Geld versickert.
Weshalb die EU über eine Aufnahme Rumäniens in die Staatengemeinschaft nachdenkt, dabei jedoch zulässt, dass die Schulbildung dort nicht von allen wahrgenommen werden kann, war eine der Fragen Bruhns. Denn wer in Rumänien ein halbes Jahr keine Schule besucht hat, wird an keiner staatlichen Schule mehr zugelassen. Hier müsste lt. Bruhns die EU Verantwortung übernehmen und dies in den Gesprächen mit der Regierung thematisieren, Forderungen stellen.
Auch für die Flüchtlinge ist diese Klärung von Bedeutung. Wenn sie zurückkehren oder in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden, sei der weitere Schulbesuch unmöglich. Für Flüchtlinge kommt hinzu, dass es in der BRD eine Schulpflicht gibt. Dies ist gerade für Menschen, deren Vorfahren „beschult“ wurden, indem die Kinder den Eltern entzogen und in Heime gesteckt wurden, oft schwer nachvollziehbar. Weiß erzählte weshalb auch in Rumänien Kinder zeitweise nicht zur Schule gehen: „Ein Mensch ohne Essen und ein Dach über dem Kopf kann nicht lernen!“ Diese Lebensbedingungen sind ein Grund, weshalb Menschen flüchten.
Doch Sinti und Roma sind nicht nur Armutsflüchtlinge. In Ungarn und in anderen Ländern, werden sie wieder oder immer noch verfolgt. Es gibt einige ungarische Gemeinden, in denen Hetzjagden durchgeführt und auch von Parlamentariern bezahlte Trupps zur Jagd auf Sinti und Roma geschickt werden. Anderen Flüchtlingen werden teilweise schon an der Grenze des Ausreiselandes die Pässe abgenommen werden, um den Nachweis ihrer Identität und Nationalität zu erschweren. Dies bietet oft die Begründung für Abschiebung. Auch das ist ein Akt der politischen Willkür.
In Schleswig-Holstein gilt für die Sinti und Roma, ebenso wie für die Friesen und Dänen, ein in der Landesverfassung verankertes Minderheitenrecht. Dieses legt u.a. Schutz und Förderung der Minderheit fest. Der Bundestagswahlkampf zeigte aber, dass dieses Recht unterschiedlich ausgelegt wird. Die NPD war mit den Aussagen „Geld für die Oma – statt für Sinti und Roma“ und „Zigeunerflut stoppen – Kriminalität stoppen“ auf Stimmenfang gegangen. Der Landesverband Schleswig-Holstein der Deutschen Sinti und Roma hat, wie andere, gegen diese Aussage wegen Volksverhetzung geklagt. Gleichzeitig wurde eine eigene Plakataktion gestartet, die einen Hinweis auf die über 600 Jahre alte deutsche Geschichte gegeben hat: 100 % Made in Germany – Schleswig-Holstein – hier bin ich zu Hause!“ An der Finanzierung des Plakates wollte sich die Landesregierung nicht beteiligen. Das Geld kam durch Spenden zusammen.
Doch mit dem rechtlich vorgesehenen „Schutz und Förderung“ der Minderheit wird auch in anderen Fragen zweigleisig gefahren. So gibt es einen „Beirat für die Sinti und Roma beim schleswig-holsteinischen Landtag“. Es werden auch seit einigen Jahren BildungsberaterInnen ausgebildet, deren Fernziel es ist, für eine nachhaltige und qualitativ hochwertige schulische Bildung zu arbeiten. Es soll(te) u.a. ein Netzwerk dafür in SH gebildet werden, zudem sollten Kinder in ihrer Zweisprachigkeit auch angesichts der Tatsache unterstützt werden, dass Romanes nicht verschriftlicht ist. Damit sollte die Chancengleichheit erhöht werden. Die Ausbildung wird im März 2014 beendet – ob die 12 Ausgebildeten dann einen Arbeitsplatz erhalten ist mehr als fraglich. Laut Aussagen des zuständigen Ministeriums gibt es keine Finanzierung der einzurichtenden Stellen.
Auch der Hinweis in einer Sitzung mit Offizieller Landesvertretung „der Landesverband solle sich nicht um Flüchtlinge kümmern, schließlich heißen sie Verband Deutscher Sinti und Roma“ lässt ahnen, wie viel Arbeit noch zu leisten ist, damit dieses Denken und Handeln auf dem Müllhaufen der Geschichte landet.
Dass die Sinti und Roma in Schleswig-Holstein unsere, und damit auch ihre, Geschichte aufarbeiten wird in einigen Vorhaben für 2014 deutlich: eine Fahrt mit Jugendlichen zum Mahnmal in Berlin, ebenso nach Auschwitz, einem KZ in dem viele ihrer Vorfahren ermordet wurden. Zur EU-Wahl im Mai wird es eine Kampagne geben, und zur Kieler Woche wird ein gemeinsamer Informationsstand mit Friesen und Dänen zu Minderheiten in SH durchgeführt.
Viele weitere Themen wurden noch angesprochen, die teilweise einen eigenen Informationsabend nötig machen. Eines davon ist die Geschichte und das Leben in der Siedlung Maro Temm. Sie wurde als Gemeinschaftsprojekt der Sinti und Roma und der Mehrheitsbevölkerung 2003/2004 zur Sicherung der Existenz der nationalen Minderheit der Sinti und Roma gegründet. Die Siedlung ist der Ort, an dem sich die dort lebenden Familien ihrer Sprache und Kultur widmen können. Er ist aber auch der Ort, der immer offen für Besuche und Gäste ist und somit – auf eine Frage der Teilnehmer_innen eingehend – sich und die Bewohner_innen nicht abschottet. Als in Europa bisher einziges Projekt, in dem Sinti und Nichtsinti gemeinsam Verantwortung tragen, hat es Modellcharakter – wie erwähnt, ein Infoabend dazu wäre sicher ausgefüllt. Die soziale Frage spielte zwar immer eine Rolle, wurde aber nicht konkret diskutiert, als eine der möglichen Ursachen für immer noch stattfindende Diskriminierung und Rassismus. Auch dazu kann eine eigene Diskussion evtl. im Hinblick auf die EU-Wahl und der Rechtsentwicklung erfolgen.
Dass sich rechte und rechtspopulistische Gruppen und Parteien enger verbinden, um noch gezielter auch mit Gewalt Flüchtlinge einzuschüchtern, zu vertreiben und ein Leben und Überleben in diesem Land zu be- und verhindern, macht Zusammenarbeit notwendig. Ebenso ist die geplante Bereitstellung von Containerunterkünften für Flüchtlinge in Kiel ein Thema.
Deutlich wurde an diesem Abend: die Sinti und Roma sehen weit über ihren „Tellerrand“ hinaus, sind nicht nur zur Solidarität mit anderen bereit, sondern auch zur Zusammenarbeit. In Kiel wollen wir diese ausbauen und gemeinsam gegen Rassismus arbeiten.
Bettina Jürgensen
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