21. April 2010
Rede von Jorge Semprún, Schriftsteller, spanischer Kulturminister a. D. und ehemaliger Buchenwaldhäftling (übersetzt von Michi Strausfeld)
Am 11. April 1945 – also vor fünfundsechzig Jahren – fuhr ein Jeep der amerikanischen Armee vor das Eingangstor des Konzentrationslagers Buchenwald.
Zwei Männer sprangen herunter.
Über einen der beiden weiß man nicht viel. Die zur Verfügung stehenden Dokumente erklären kaum etwas. Fest steht lediglich, dass es sich um einen Zivilisten handelt. Aber: warum war er da, in der Vorhut der Sechsten Panzerdivision des nordamerikanischen Militärs unter Führung von General Patton? Welchen Beruf übt er aus? Was ist seine Aufgabe? Ist er vielleicht Journalist? Oder, vermutlich wahrscheinlicher, ist er Experte oder Zivilberater eines militärischen Informations- und Aufklärungsdienstes?
Man weiß es nicht.
Jedenfalls steht er, nachmittags um fünf Uhr an einem denkwürdigen Tag, vor dem monumentalen Eingangstor des Konzentrationslagers. Er steht da, begleitet den zweiten Mann des Jeeps.
Dessen Identität kennt man: er ist Leutnant, mehr noch, Oberstleutnant, ein Offizier der militärischen Aufklärung, die der Psychologischen Kriegsführung des Stabs von General Omar N. Bradley zugeordnet ist.
Wir wissen nicht, was die beiden Amerikaner dachten, als sie vom Jeep herab-sprangen und die Inschrift in schmiedeeisernen Buchstaben betrachteten, die über dem Gittertor von Buchenwald steht: JEDEM DAS SEINE.
Wir wissen nicht, ob sie Zeit hatten, um wenigstens flüchtig das ganze Ausmaß dieses kriminellen und arroganten Zynismus im Gedächtnis zu registrieren. Ein Satz, der sich auf die Gleichheit der Menschen bezieht, der am Eingang eines Konzentrationslagers steht, dieses todbringenden Ortes, dieses Ortes, an dem nur das völlig willkürliche und brutalste Unrecht praktiziert wurde, wo es für die Deportierten nur eine Gleichheit gab: die Gleichheit vor dem Tod.
Der gleiche Zynismus findet sich in dem Satz, der über dem Eingangstor zu Auschwitz steht: ARBEIT MACHT FREI. Ein Zynismus, der für die Nazimentalität absolut charakteristisch war.
Wir wissen nicht, was die beiden Amerikaner in jedem historischen Augenblick dachten. Aber wir wissen sehr wohl, dass sie mit Jubel und Applaus von den bewaffneten Deportierten begrüßt wurden, die damals am Eingangstor von Buchenwald Wache hielten. Wir wissen, dass sie wie Befreier gefeiert wurden. Und das waren sie, in der Tat.
Wir wissen nicht, was sie gedacht haben, wir wissen kaum etwas von ihren Biographien, ihrer persönlichen Geschichte, kennen weder ihre Vorlieben noch ihre Abneigungen, wissen nichts über ihr familiäres Umfeld, auch nicht über ihre Studienjahre, falls sie sie gehabt haben.
Aber wir kennen ihre Namen.
Der Zivilist hießt Egon W.Fleck und der Oberstleutnant Edward A. Tenenbaum. Lasst uns hier, auf dem Appellplatz von Buchenwald, fünfundsechzig Jahre später, auf diesem dramatischen Platz, diese beiden vergessenen und großartigen Namen wiederholen: Fleck und Tenenbaum.
Hier, wo die kehlige, unwirsche, aggressive Stimme des Rapportführers hallte, an jedem Tag in jeder Woche, wo er Befehle und Beleidigungen austeilte; hier, wo durch die Lautsprecheranlage an manchen Sonntagnachmittagen auch die sinnliche und warme Stimme von Zarah Leander zu hören war mit ihren immergleichen Liebesschnulzen, hier wollen wir laut, so laut wie nur möglich, und wenn wir schreien müssten, diese beiden Namen wiederholen. Egon W. Fleck und Edward A. Tenenbaum.
Und dies ist nun die wunderbare Ironie der Geschichte, eine unglaublich signifikative Revanche der Geschichte: die beiden ersten Amerikaner, die mit dem Befreiungsheer an den Eingang von Buchenwald kommen, an jenem 11. April 1945, sind zwei jüdische Männer. Und als ob das noch nicht genug wäre: es handelt sich um zwei amerikanische Juden deutscher Herkunft, die vor nicht allzu langer Zeit emigriert sind.
Wir wissen, aber dennoch ist es nicht müßig, diese Tatsache zu wiederholen, dass in dem imperialistischen Angriffskrieg, den der Nationalsozialismus 1939 in Gang setzte, und der auf die Schaffung einer totalitären Vorherrschaft in Europa und vielleicht sogar in der ganzen Welt abzielte, wir wissen, dass es in diesem Krieg eine eminent wichtige, eine essentielle Absicht gab: das jüdische Volk kontinuierlich und konsequent auszurotten, ein wahnsinniges und dennoch prioritäres Vorhaben, das zu den Kriegszielen Hitlers gehörte.
Ohne ein Geheimnis daraus zu machen noch irgendein Zugeständnis an etwaige moralische Restriktionen, bildete der rassische Antisemitismus Teil des genetischen Codes der Ideologie des Nazismus, und dies seit den ersten Schriften von Hitler, seit seinen allerersten politischen Aktivitäten.
Für die so genannte ENDLÖSUNG der jüdischen Frage in Europa, organisiert der Nazismus die systematische Vernichtung im Archipel der Sonderlager des Komplexes Auschwitz-Birkenau, in Polen.
Buchenwald zählt nicht zu besagtem Archipel. Es ist kein direktes Vernichtungslager, mit der kontinuierlichen Aussonderung und Entsendung von Häftlingen in die Gaskammern. Es ist ein Zwangsarbeiterlager, ohne Gaskammern. Der Tod in Buchenwald ist das natürliche und vorhersehbare Ergebnis der extrem harten Arbeitsbedingungen, der systematischen Unterernährung. Folglich ist Buchenwald ein JUDENREINES Lager. Dennoch kennt Buchenwald aufgrund konkreter historischer Ursachen zwei verschiedene Etappen massiver Präsenz von jüdischen Deportierten.
Eine dieser Etappen fällt in die ersten Jahren der Existenz des Lagers, als nach der Kristallnacht und dem allgemeinem Pogrom, von Hitler und Goebbels im November 1938 persönlich organisiert, Tausende von Juden, insbesondere von Frankfurter Juden, nach Buchenwald geschickt wurden.
Noch 1944 erinnerten sich die altgedienten deutschen Kommunisten an die mörderische Brutalität, mit der diese Juden aus Frankfurt in Massen hinterhältig misshandelt und umgebracht wurden. Die Überlebenden wurden dann in die Vernichtungslager in den Osten deportiert.
Die zweite Etappe der jüdischen Präsenz in Buchenwald fällt in das Jahr 1945, gegen Kriegsende, konkret in die Monate Februar und März. Zu jener Zeit wurden zehntausende von jüdischen Überlebenden aus den Lagern im Osten auf Befehl der SS nach Mitteldeutschland evakuiert, wegen des Vormarsches der Roten Armee.
Tausende von ausgemergelten Deportierten kamen nach Buchenwald – darunter auch Sinti und Roma -, wurden unter unmenschlichen Bedingungen herbeigeschafft, mitten im Winter, aus dem fernen Polen. Viele starben während dieser endlos langen Fahrt. Jene, die Buchenwald noch erreichen konnten, das damals bereits übervolle Lager, wurden in den Baracken des Quarantänelagers, im KLEINEN LAGER, untergebracht oder in Zelten und Feldlagern, die eigens für ihre notdürftige Unterbringung errichtet wurden.
Unter diesen tausenden von Juden, die damals nach Buchenwald kamen, und die uns direkte Informationen zukommen ließen, die uns ein lebendiges und blutiges Zeugnis der industriell vollzogenen und brutal rationalisierten Massenvernichtung in den Gaskammern lieferten, unter diesen tausenden von Juden gab es viele Kinder und Jugendliche.
Die klandestine antifaschistische Organisation von Buchenwald machte es möglich, dass diesen jüdischen Kindern und Jugendlichen, die Auschwitz überlebt hatten, ein wenig geholfen werden konnte. Nicht viel, und dennoch war es äußerst riskant: es war eine wichtige Geste der Solidarität, der Brüderlichkeit.
Unter diesen jüdischen Heranwachsenden befand sich Elie Wiesel, der künftige Friedensnobelpreisträger. Unter ihnen befand sich auch Imre Kertesz, der künftige Literaturnobelpreisträger.
Als Präsident Barack Obama vor ein paar Monaten Buchenwald besucht hat, begleitete ihn Elie Wiesel, heute nordamerikanischer Staatsbürger. Man kann vermuten, dass Wiesel diese Gelegenheit nutzte, um den Präsidenten der Vereinigten Staaten über die Erfahrung jener unauslöschbaren Vergangenheit zu informieren, über seine persönlichen Erfahrungen als jüdischer Jugendlicher in Buchenwald.
Auf jeden Fall scheint es mir angemessen, in diesem feierlichen Augenblick, an diesem historischen Ort, an die Erfahrung jener jüdischen Kinder und Jugendlichen zu erinnern, Überlebende von Auschwitz, dem letzten Kreis der Hölle der Nazis. An jene zu erinnern, die aufgrund ihres literarischen Talents und ihrer öffentlichen Aktivitäten, wie Imre Kertesz und Elie Wiesel, bekannt wurden wie auch an jene, die als einfache Helden in die Anonymität der Geschichte eingegangen sind.
Auch ist dies kein schlechter Moment, um eine Tatsache zu betonen, die sich unausweichlich am Horizont unserer Zukunft abzeichnet. Ich habe es schon vor fünf Jahren im Nationaltheater von Weimar gesagt: die am längsten andauernde Erinnerung an die Nazilager wird die jüdische Erinnerung sein. Und diese wird ihrerseits – wie geschildert – nicht auf die Erfahrungen von Auschwitz und Birkenau begrenzt sein. Seit Januar 1945 wurden nämlich angesichts des Vormarsches der Sowjetarmee, wie ich schon sagte, Tausende und Abertausende von deportieren Juden in die Konzentrationslager von Mitteldeutschland evakuiert.
Daher ist es möglich, dass in der Erinnerung von jüdischen Kindern und Jugendli-chen, die das Jahr 2015 sicher überleben werden, ein globales Bild der Vernichtung fortbestehen wird: Eine universalistische Reflexion ist möglich und, wie ich glaube, auch wünschenswert: in diesem Sinn obliegt dem jüdischen Gedächtnis eine große Verantwortung: alle europäischen Erinnerungen an den Widerstand und das erlittene Leid haben in den nächsten zehn Jahren als letzte Zuflucht und Bollwerk gegen das Vergessen nur noch die jüdische Erinnerung an die Vernichtung. Es ist die älteste Erinnerung an jenes Leben, da es eben die in jüngstem Alter erlebte Erfahrung des Todes war.
Aber kehren wir einen Augenblick zu jenem 11. April 1945 zurück. Kehren wir zurück zu dem Augenblick, an dem Egon W. Fleck und Edward A. Tenenbaum ihren Jeep vor dem Tor von Buchenwald zum Halt bringen.
Wenn ich viele Jahre jünger wäre, würde ich jetzt vermutlich eine historische Ermittlung beginnen, eine romanhafte Erforschung jener beiden Personen, eine Untersuchung, die den Weg zu einem Buch über jenen 11. April von vor mehr als einem halben Jahrhundert auftun würde, zu einer literarischen Arbeit, in der Fiktion und Wirklichkeit sich wechselseitig stützen und bereichern würden. Aber mir bleibt keine Zeit mehr für ein solches Abenteuer.
Ich beschränke mich daher darauf, an einige Sätze aus dem vorläufigen Bericht zu erinnern, den Fleck und Tenenbaum zwei Wochen später, genau am 24. April, für ihre militärischen Vorgesetzten verfassten, und den man in den Nationalarchiven der Vereinigten Staaten finden kann.
Als wir in die große Zufahrtsstraße einbiegen – so schreiben die beiden Amerikaner – sahen wir Tausende von Männern, in Lumpen gekleidet und ausgemergelt, die in disziplinierten Formationen nach Osten marschierten. Diese Männer waren bewaffnet und hatten Vorgesetzte, die sie umstellten. Einige Abteilungen trugen deutsche Gewehre, andere hatten „Panzerfäuste“ über den Schultern hängen. Sie lachten und machten Gesten wütender Fröhlichkeit, während sie weitergingen … das waren die Deportierten von Buchenwald, die sich zum Kampf aufmachten, währen unsere Panzer sie mit 50 Stundenkilometern überholten.
Dieser „vorläufige Bericht“ ist dank verschiedener Gründe von Bedeutung. Zunächst und vor allem, weil die beiden Amerikaner, unvoreingenommene Zeugen, ganz klar die Realität des bewaffneten Aufstands beschreiben, den der antifaschistische Widerstand in Buchenwald organisiert hatte – und der während der Jahre des Kalten Krieges zu vielen Polemiken geführt hatte.
Am wichtigsten aber, jedenfalls für mich, und zwar wegen des menschlichen und literarischen Standpunktes, ist ein Wort in diesem Bericht: das deutsche Wort „Panzerfaust“.
Fleck und Tenenbaum schreiben ihren Bericht in der Tat auf Englisch, logischerweise. Aber als sie sich auf die individuelle Waffe beziehen, die gegen einen Panzer gerichtet werden kann, und die in nahezu allen Sprachen der Welt „bazooka“ heißt, und ganz sicher heißt sie so in Englisch, greifen sie auf das deutsche Wort zurück.
Das legt mir den Gedanken nahe, dass Fleck und Tenenbaum, der Zivilist und der Militär, Amerikaner jüngerer deutscher Herkunft sind. Und so beginnt ein neues Kapitel in der romanhaften Erforschung, die ich gerne anfangen würde. Aber es gibt noch einen weiteren, ganz persönlichen Grund, warum der Begriff „Panzerfaust“, wörtlich also die Faust gegen den Panzer, für mich so wichtig ist. An jenem 11. April 1945 befand ich mich nämlich in der Kolonne bewaffneter Männer, die wütend und fröhlich waren. Ich war einer der „bazooka“-Träger.
Der Deportierte 44904, auf seiner Brust das rote Dreieck, und auf schwarzem Grund war der Buchstabe „S“, für Spanier, aufgedruckt. Dieser Spanier war ich, inmitten der jubilierenden Träger von Bazookas oder Panzerfäusten.
Heute, so viele Jahre später, auf diesem dramatische Raum, dem Appellplatz von Buchenwald, an der letzten Grenze eines Lebens von zerstörten Gewissheiten und von Illusionen, die ich gegen Wind und Wetter bewahrt habe, erlauben Sie mir eine heitere, gelassene und brüderliche Erinnerung an jenen jungen Mann, der mit 22 Jahren eine Bazooka in seinen Händen hielt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.